30.000 Kilometer jährlich zum Unterricht

Recklinghausen. „Früher habe ich mehr als 400 Kinder in Biologie und Sport unterrichtet – heute sind es genau sechs“, erzählt Oliver Thier. Was für viele wie Zukunftsmusik klingt, ist für den 41-jährigen Lehrer aus der Festspielstadt seit acht Jahren Wirklichkeit: er unterrichtet an der „Schule für Circuskinder in Nordrhein-Westfalen der Evangelischen Kirche im Rheinland Primarstufe und Sekundarstufe I“.

Das Leben von Circuskindern unterscheidet sich gewaltig von dem anderer Kinder. Sie wachsen in einer Gemeinschaft auf, die sich selten länger als eine Woche an einem Ort befindet, sie treten früh in die Fußstapfen ihrer Eltern und arbeiten im Circus mit. Doch auch für sie besteht die Schulpflicht. Der Schulalltag ist allerdings katastrophal: 40 bis 50 Schulwechsel pro Jahr, damit verbunden wechselnde Lehrer, Mitschüler, didaktische Methoden und Schulformen. Dadurch sind Misserfolg und Versagen programmiert – die Schule entwickelt sich für die Circuskinder zum Ort des Grauens und Schulverweigerung, -abbruch sowie Analphabetismus sind nicht selten die Folge.

Doch es gibt nicht nur eine Schulpflicht für Kinder, sondern auch eine Verpflichtung des Staates, die Kindern das Recht auf Bildung zu garantieren hat. Da der Staat diese seine Verpflichtung nicht besonders ernst nahm, schaltete sich die Evangelische Kirche ein und entwickelte ab 1985 das Konzept der „Schule für Circuskinder“ (SfC). Vier Jahre später konnte das Kultusministerium NRW von der Notwendigkeit der Schule überzeugt werden, und 1994 startete ein Pilotprojekt.

Nach Schätzungen soll es rund 12.000 „reisende Kinder“ (nicht nur von Circusleuten, sondern auch von Schaustellern, Schiffern usw.) in Deutschland geben. Genaue Zahlen kennt niemand. Rund 360 werden zur Zeit von der SfC betreut, sechs davon hat Oliver Thier seit gut einem Jahr unter seinen Fittichen.

„Ich muss natürlich alle Fächer unterrichten“, so der „reisende“ Pädagoge, der jährlich rund 30.000 Kilometer fahren muss, um „seine“ Kinder zu erreichen. Doch dies sei kein Problem, da er notfalls Rat bei den Kollegen einholen könne. Seine Schüler sind zwischen sieben und achtzehn Jahre alt – also musste er für jeden einzelnen Schüler ein individuelles Lernprofil erstellen. Bei diesen Profilen werden natürlich die besonderen Lebensumstände der Kinder und auch die bereits gemachten Erfahrungen berücksichtigt. Darauf basierend erstellte Thier dann individuelle Stoff- und Lernpläne. Das Tempo der Bearbeitung bestimmt das Kind selbst. „Dadurch, und weil es keine schlechten Noten gibt, ist unser System besser als das der „normalen“ Schulen“, behauptet der engagierte Lehrer. Die Statistiken scheinen ihm Recht zu geben, denn die Abschlüsse der SfC-Schüler sind nicht schlechter als die der Schüler anderer Schulen.

Oliver Thier macht die Arbeit an „seiner“ Schule viel Spaß, die Kinder sind ebenfalls begeistert, und auch den Eltern ist ein Stein vom Herzen gefallen. Einige von ihnen reisen hauptsächlich durch Nordrhein-Westfalen, damit ihre Kinder in die „Schule für Circuskinder“ gehen können.

Montag, 26. April 2010, 12:51 • Verfasst in Recklinghausen

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