Aus der Adventszeit vor 125 Jahren
Heischegänge, Bazare, Wohltätigkeit und Emanzipation
Bild:Adventsbazare (wie hier um 1960) erfreuten sich schon im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit. Dort wurde und wird Selbstgefertigtes für einen guten Zweck verkauft. Foto: LWL/Adolf Risse
Vest. Wenn um die Wende zum 17. Jahrhundert die „A-solis-Sänger“ im Nachbarkreis Coesfeld die Runde machten, war eines klar: Es war Weihnachten. Am Heiligabend und an den beiden Weihnachtsfeiertagen zog eine Gruppe von Sängern von Haus zu Haus und sang eine lateinische Hymne. Welche weiteren Heischebräuche und Armenbescherungen es früher während der Advents- und Weihnachtszeit in Westfalen-Lippe gab und wie Wohltätigkeit und frühe Emanzipation zusammenhängen, haben die Alltagskulturforscher des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) zusammengetragen.
Von den Stiftsdamen erhielten die Sänger in Nottuln Bier und ein Trinkgeld. „Die Bürgerinnen und Bürger werden wohl auch etwas gegeben haben, aber das ist in den Quellen nicht belegt“, erklärt Christiane Cantauw, Geschäftsführerin der Kommission Alltagskulturforschung beim LWL. Das Problem der Alltagsgeschichtsforschung: „Was wir beispielsweise über die Rituale vergangener Zeiten wissen, ist ja nur ein kleiner Teil dessen, was wirklich stattgefunden hat. Vieles hat sich leider in den schriftlichen Quellen nicht niedergeschlagen und ist deshalb über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten.”
Heischebräuche
Von der Adventszeit bis Dreikönige zogen überall in Westfalen Erwachsene, Jugendliche oder Kinder von Tür zu Tür, um dort zu „heischen“: Sie sangen ein paar Weihnachtslieder, trugen Reime und Gedichte vor und erhielten dafür, was die Haushalte entbehren konnten, vor allem Äpfel und Nüsse, manchmal auch Gebäck oder den ein oder anderen Pfennig. Mancherorts waren es auch bestimmte Berufsgruppen, die für ihren Dienst an der Allgemeinheit durch das Heischen eine Art Gratifikation erhielten.
Wohltätigkeit – ob nun durch Heischen eingefordert oder nicht – war in vergangenen Jahrhunderten aus der Advents- und Weihnachtszeit nicht wegzudenken. Elisabeth-, Vinzenz- und katholische oder evangelische Frauenvereine, einzelne Pfarrer oder ganze Kirchengemeinden organisierten Bazare, Bescherungen, Konzerte, Tombolas oder Sammlungen für arme Kinder und Familien.
Von allen Veranstaltungen auch nur mit wenigen Zeilen zu berichten, war für die Lokalredakteure gar nicht so leicht. Sie listeten die vielen verschiedenen Aktivitäten in einem längeren Beitrag auf.
Bei den mildtätigen Gaben handelte es sich vielfach um Strümpfe, Kleider, Stoff, Schiefertafeln und anderen Schulbedarf, Schuhe oder Äpfel, Nüsse und Kuchen.
Dass die Geschenke praktisch waren, das war im 19. Jahrhundert durchaus üblich, so Cantauw. „Knechte, Mägde und Dienstboten erhielten in den Haushalten zu Weihnachten Holzschuhe, Socken, Stoffe, Hemden, Bettwäsche, eine Schürze oder ein Kleid. Auch gab es in manchen Haushalten noch ein kleines Geldgeschenk. Hier deutet sich eine Parallele zu den Armenbescherungen an.“
Bürgerliche Tugend mit Ziel Emanzipation
Wohltätigkeit war nicht nur ein Gebot christlicher Nächstenliebe, sondern etablierte sich auch als bürgerliche Tugend. „Für manche bürgerlichen Frauen steckte im ausgehenden 19. Jahrhundert aber noch mehr dahinter: Sie verbanden mit der Organisation von Wohltätigkeitsveranstaltungen und verschiedenen oft vereinsmäßig organisierten Unterstützungsangeboten auch das Ziel einer Berufstätigkeit und Emanzipation“, so Cantauw.
Anhand der bürgerlichen Frauen zeige sich, dass Wohltätigkeit ein gesellschaftlich gewolltes Geben und Nehmen war (und ist). Die Armut der Unterprivilegierten habe es den Bessergestellten ermöglicht, sich wohltätig zu zeigen und gleichzeitig durch ihr Tun die Gesellschaft zu stabilisieren. Dass die Anstrengungen der wohltätigen Frauen für die Armen nicht völlig selbstlos waren, entspreche dem Gesetz von Gabe und Gegengabe.
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