„Ostfront? Nix da, Du bleibst hier!“

Recklinghausen. Fasziniert schaut Gerhard Blättner, genannt „Eddie“, seinem Onkel zu, der vor einer Flieger-Abwehr-Kanone steht und gelegentlich abdrückt. Es ist der 3. Februar 1945, und der Himmel über Berlin ist voller dunkler Punkte. Alliierte Bomber, die einen todbringenden Bombenhagel auf Eddies Heimatstadt herunterhageln lassen.

„Das war einer der schlimmsten Tage für mich im Zweiten Weltkrieg,“ erinnert sich Blättner auch nach 65 Jahren noch. Damals war er 14 Jahre alt, übermorgen, am 29. März, wird der Rentner 80.

Achtmal gab es Bombenalarm an jenem 3. Februar. Beim sechsten Mal erwischt es ihn fast. Nur mit Mühe und Not kann er den Keller seines Wohnhauses erreichen, als eine Bombe das Nachbarhaus in Schutt und Asche legt. „Plötzlich zerbarst die Fensterscheibe und ich wurde fünf Meter zurückgeschleudert.“ Nach dem Angriff durchwühlen Eddie und einige andere den Schutt. Bis auf einen Verletzten finden sie nur Leichen.

Zwei Tage später erleidet das andere Nachbarhaus das gleiche Schicksal. Auch hier nur Tote. „Plötzlich hörten wir Klopfzeichen aus dem Keller“, erinnert Blättner sich. Die übrig gebliebenen Nachbarn und er bemühen sich fieberhaft, den Verschütten freizulegen. Wegen der fehlenden Werkzeuge mit den nackten Händen. Nach vier Tagen finden sie ihn. „Er hockte in einer Kellerecke. Tot. Erstickt.“

Doch es soll noch schlimmer kommen für Gerhard Blättner. Ende März 1945erhalten er und sechs Klassenkameraden ihren Einberufungsbefehl für die Ostfront. Die gesamte Ausbildung besteht darin, das jeder einen Schuss aus einem Gewehr abgeben muss. Mehr war knapp sechs Wochen vor Kriegsende nicht mehr drin.

Eddie hat gerade das Haus verlassen, um seine Kameraden zu treffen, als ihn eine ausgemergelte, bärtige Gestalt am Kragen festhält. „Wo willst Du hin?“ „Zur Ostfront.“ „Nichts da, Du bleibst hier! Versteck Dich im Keller!“ Endlich erkennt Eddie den Mann. Es ist sein Vater, wegen Erfrierungen an den Beinen auf „Heimaturlaub“. Eddie gehorcht, bleibt bis zur Kapitulation am 8. Mai im Keller. „Irgendwann kamen die „Kettenhunde“ zu meiner Familie und suchten mich.“ Diese spürten Deserteure auf, doch den Keller durchsuchten sie nicht. „Wahrscheinlich wollten sie mich nicht finden“, meint Blättner heute, “schließlich war ich ja noch ein Kind.“

Die Entscheidung seines Vaters hat ihm wohl das Leben gerettet, denn von den sechs Klassenkameraden, die sich ohne ihn zur Ostfront aufgemacht hatten, ist kein einziger zurückgekehrt.

Zehn Jahre später zieht Eddie nach Recklinghausen und bleibt hier – bis heute.

Sonntag, 28. März 2010, 10:09 • Verfasst in Recklinghausen

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